12

Wie sich herausstellte, fehlten einige Familienmitglieder, aber soweit Renee mitbekam, spazierten in den nächsten paar Minuten genügend Vertreter des Gesetzes durch die Tür, um einen kompletten Rechtsstaat auszustatten.

Tante Louisa war in der Küche, wo sie sich den letzten Essensvorbereitungen widmete, und Sandy deckte den Tisch, als Johns Bruder Dave eintraf. Die Ähnlichkeit zwischen den beiden war verblüffend. Sie waren groß und auf herbe Weise attraktiv, und sie hatten die gleichen dunklen, wachsamen Augen. Aber Dave hatte nichts von der Energie, die John mit jedem Atemzug verströmte. Er vermittelte den Eindruck gleichmütiger Gelassenheit. Seine legere Art schien zu sagen, dass das Leben die Aufregung nicht lohnte. Allerdings musste sich Renee eingestehen, dass das Kleinkind, das er im Arm trug, die Windeltasche, die er sich über die Schulter gehängt hatte, und das T-Shirt mit der Aufschrift Achtung, Polizist! Bitte nicht füttern! zu diesem Eindruck beitrugen. Trotzdem konnte sie nicht vergessen, dass er Polizist war, mochte er noch so freundlich wirken.

»Freut mich, dich kennen zu lernen, Alice«, sagte Dave, nachdem John sie vorgestellt hatte. Dann zeigte er ihr das Kind. »Und das ist Ashley.«

Als die Kleine ihren Namen hörte, drehte sie sich in seinem Arm herum und verzog das Gesicht zu einem strahlenden Lächeln. Sie war etwa anderthalb Jahre alt, hatte zerzaustes schwarzes Haar und die größten braunen Augen, die Renee jemals gesehen hatte.

»Hallo, Ashley«, sagte Renee und kitzelte das Mädchen am Arm. Das Baby kicherte verhalten. Dave grinste Ashley an, dann drückte er ihr einen dicken, schmatzenden Kuss auf die Wange, worauf sie noch mehr kicherte.

Am Strahlen in Daves Augen erkannte Renee, dass seine Tochter für immer im Mittelpunkt seines Lebens stehen würde. Und sie spürte tief drinnen eine seltsame Regung, von der sie gedacht hatte, dass sie sie schon vor langer Zeit erfolgreich verdrängt hatte - der unerträgliche Schmerz der Einsamkeit und Nutzlosigkeit, der ihre gesamte Kindheit überschattet hatte. Sie war mit dem Gefühl aufgewachsen, dass es auf der ganzen Welt niemanden gab, den es wirklich interessierte, wie es ihr erging - nicht einmal ihre Mutter. Es war lange her, seit sie das letzte Mal darüber nachgedacht hatte, weil sie dem Weg, der sie von den Schrecken der Jugend zu einer reifen, verantwortungsbewussten Frau geführt hatte, niemals hätte folgen können, wenn sie ihr Leben von der Tatsache hätte bestimmen lassen, dass ihre Geburt ein Unfall gewesen war. Doch als sie nun Dave und Ashley sah, wurde sie sich schmerzhaft der Ungerechtigkeit des Lebens bewusst, als wäre alles erst gestern geschehen.

»Komm, Ashley«, sagte Dave lächelnd zu seiner Tochter. »Wir wollen mal schauen, was Tante Louisa zusammengebrutzelt hat.«

Sie verschwanden in der Küche, als gleichzeitig zwei weitere Besucher durch die Haustür eintraten. Es waren Brenda und Eddie.

Eddie war ein blonder, intellektueller Typ, der zwischen den verstaubten Regalen einer Bibliothek des neunzehnten Jahrhunderts überhaupt nicht aufgefallen wäre. Der Kriminologe. Er entsprach hundertprozentig dem Klischee. Aber wie gut war er in seinem Job? Konnte sein scharfer, durchdringender Blick sie wie ein Lügendetektor entlarven? Einen kurzen Moment lang befürchtete sie, dass er den Schmortopf, den er in den Händen hielt, fallen lassen, anklagend mit dem Finger auf sie zeigen und erklären würde, dass sie sich der Justiz durch Flucht entzogen hatte. Doch er lächelte nur und stellte seine Frau Brenda vor. Auch in ihrem Fall hatte die Besetzungsagentur des Lebens den Nagel voll auf den Kopf getroffen.

Brenda, die treffsichere Scharfschützin, war klein und stämmig gebaut, etwa dreißig Jahre alt und verströmte aus jeder Pore ihres Körpers den Geruch der Dominanz. Ihr schwarzes Haar war kurz geschoren, ihre Lippen, die nie zu lächeln schienen, waren dünn und farblos, und als sie mit schneller und sicherer Handbewegung die Sonnenbrille abnahm, schien Renee von ihren leicht zusammengekniffenen Augen wie von zwei Bajonetten durchbohrt zu werden. Sie sah aus, als würde sie sich lieber bei einer Militärübung irgendwo im Mittleren Osten in die Schlange vor der Gulaschkanone einreihen als Tante Louisas Schmorbraten zu essen. Zum Glück schien sie nicht bewaffnet zu sein und auf Renees Anwesenheit mit genauso wenig Misstrauen zu reagieren wie ihr Ehemann.

Dann stellte Eddie ihre Tochter Melanie vor, die Brendas Hand hielt und schüchtern blinzelnd zu Renee aufsah. Das Mädchen war etwa fünf Jahre alt, hatte meergrüne Augen und feines blondes Haar. Es wirkte so zart wie eine Pusteblume. Renee sah abwechselnd Brenda und das Kind an. Sie hatte noch nie so deutlich den Eindruck gehabt, dass sich der Klapperstorch in der Adresse geirrt haben musste.

Nachdem alle einander vorgestellt waren, legte Brenda eine Hand an die Hüfte und musterte Renee. »Du bist also Johns Freundin, wie?«

»Ah ... ja.«

Sie wandte sich an John. »Du machst Fortschritte. Diese gibt es sogar zu.«

John starrte sie mit unbewegter Miene an. »In der Küche ist Bier, Brenda. Aber leider kein Flaschenöffner. Beiß den Kronkorken einfach mit den Zähnen ab.«

Brendas Mund verzog sich fast zu einem Lächeln. »Soll das eine Herausforderung sein?«

Brenda ging in die Küche und nahm das engelhafte Kind mit. Eddie folgte ihnen. Renee drehte sich zu John um, weil sie interessiert war, wie er auf Brendas schlagfertige Erwiderung reagierte. Aber er blickte schon wieder zur Haustür, wo sich Großmutter auf wackligen Beinen näherte, mit einem Kuchenteller in der Hand. John trat auf die Veranda, nahm ihr den Kuchen ab und bot seine freie Hand an, um ihr die Stufen hinaufzuhelfen.

Mit den rosigen Wangen, der Brille und dem zarten Blümchenkleid entsprach sie ganz dem Klischee einer Fernsehgroßmutter der fünfziger Jahre. Renee verspürte große Erleichterung. Wahrscheinlich konnte sie sich in aller Ruhe Geschichten über den großen Börsenkrach und Klagen, dass es heute keine Präsidenten wie Herbert Hoover mehr gab, anhören - und auf diese Weise vermeiden, sich mit dem Rest der Familie unterhalten zu müssen.

Doch als Großmutter Renee sah, blieb sie wie angewurzelt stehen, und ihre freundliche Miene wich einem misstrauischen Stirnrunzeln.

»Ich kenne Sie nicht.«

»Nein, Großmutter, du kennst sie noch nicht«, sagte John. »Das ist Alice.«

»Alice? Ich hatte einmal eine Katze, die Alice hieß. Sie bekam eine Hautkrankheit, und ihr fielen sämtliche Haare aus.«

»Das ist ja furchtbar!«, sagte Renee.

»Nein. Danach hat sie keine Haarknäuel mehr ausgewürgt.«

Großmutter nahm John den Kuchenteller wieder ab und wackelte weiter durch das Wohnzimmer zur Küche. So viel zur Idee, sich durch die Lebenserinnerungen einer liebenswürdigen alten Dame vor anderen Gesprächen abschirmen zu lassen.

»Ich glaube, damit ist die heutige Besetzung komplett«, flüsterte John ihr zu. »Großvater und Alex sind zum Angeln gefahren. Wir haben richtig Glück gehabt.« Mit anderen Worten, er war erleichtert, dass die erste Runde vorbei war und sie immer noch auf den Beinen standen.

Unter Johns wachsamen Augen schlich sich Renee in den Waschraum und schaffte es schließlich, den Reißverschluss ihrer Jeans zuzuziehen, während sie unablässig auf John schimpfte. Jetzt wusste sie, wie es gewesen sein musste, ein Korsett zu tragen. Die Hose war so eng, dass ihr Unterleib gefühllos wurde. Wenn sie sich setzte, würde sie zu Levi Strauss beten müssen, dass keine Naht platzte.

Die Familie hatte sich in der Küche versammelt, unter dem Vorsitz von Tante Louisa, einer Frau, die so groß und aufrecht wie das Washington Monument war. Sie trug Hosen und eine hochgeschlossene Bluse mit einer Kamee am Kragen, und ihr grau meliertes Haar klammerte sich verzweifelt in einer starken Dauerwelle an ihren Kopf. Sie erteilte allen Anwesenden Befehle, die durch ihren freundlichen Tonfall abgemildert wurden, doch keiner wagte es, sich ihren Anweisungen, dies umzurühren oder jenes warm zu machen, zu widersetzen. Nur Renee musste nichts tun, sondern erhielt den Befehl, sich an den Tisch im Frühstückszimmer zu setzen und hübsch auszusehen, weil sie Gast war. Aber beim nächsten Mal, sagte Tante Louisa, würde sie genauso wie alle anderen mit anpacken müssen.

Renee stellte schnell fest, dass es im Kreis dieser Familie genauso lebhaft wie auf dem Rollfeld des Flughafens von Dallas und Fort Worth zuging. Es herrschte eine unglaubliche Hektik, und der Geräuschpegel entsprach ungefähr dem eines startenden Jumbo-Jets. Es fiel ihr schwer, sich all diese Leute als Polizisten und sonstige Gesetzeshüter vorzustellen. Es schienen ganz normale Leute zu sein. Nette Leute. Aber jedes Mal, wenn sie sich ein wenig entspannte und ihren Gesprächen lauschte, warf John ihr einen seiner warnenden Polizistenblicke zu und erinnerte sie an den wahren Grund ihres Hierseins.

Wenige Minuten später zogen sie ins Esszimmer um. John war ihr auf geradezu charmante Weise beim Platznehmen behilflich, obwohl Renee wusste, dass es kaum etwas mit Höflichkeit zu tun hatte. Er sorgte lediglich dafür, dass sie neben ihm saß, wo er sie besser im Auge behalten konnte.

»So, Alice«, sagte Tante Louisa und reichte das Kartoffelpüree herum. »Jetzt erzähl uns mal, womit du deinen Lebensunterhalt verdienst.«

Sie hatte Sandy bereits die Wahrheit gesagt - beziehungsweise das, was die Wahrheit gewesen war, bevor man sie für einen bewaffneten Raubüberfall verantwortlich gemacht hatte. Also musste sie sich weiterhin an diese Fakten halten. »Ich bin Oberkellnerin eines Restaurants.«

»Oh! Wie interessant! In welchem Restaurant?«

»Im Renaissance.«

Alle starrten sie verständnislos an.

»Es liegt drüben in Rosewood Village.«

»Ach sooo!«, sagte Sandy. »Das kleine italienische Restaurant! Ich habe gehört, dass es wirklich nett sein soll. Und recht teuer. Als es in der Zeitung besprochen wurde, hat es vier kleine Dollarzeichen bekommen.«

»Mensch, John!«, sagte Brenda. »Da hast du ja einen richtig guten Griff gemacht. Jetzt kannst du Alice ganz fein zum Essen ausführen und bekommst gleichzeitig den Angestelltenrabatt. Das ist ja fast wie ein Gutschein.«

»Junge, daran hatte ich noch gar nicht gedacht«, sagte John. »Würdest du gerne mitkommen? Nein, ich fürchte, der Laden ist nichts für dich, Brenda. Dort ist es nicht üblich, dass die Gäste ihr Abendessen selber schießen.«

Brenda wandte sich an Sandy. »Hast du nicht gesagt, es sei ein Restaurant der gehobenen Klasse?«

»Ich habe gehört, dass in Restaurants alles wiederverwertet wird«, murmelte Großmutter. »Was man nicht isst, wird in die Küche zurückgebracht und kommt in den Eintopf.«

»Mutter!«, rief Tante Louisa. »Natürlich gibt es so etwas nicht! Stimmt‘s, Alice?«

Nun, an einem früheren Arbeitsplatz hatte sie einmal gesehen, wie einem Kellner in der Küche ein Steak herunterfiel, worauf er es vom Boden aufhob, an seiner Hose abwischte und es ohne Umschweife wieder auf den Teller legte. Aber sie glaubte nicht, dass Großmutter diese Geschichte hören wollte.

»Ja«, sagte Renee. »Natürlich gibt es das nicht.«

»Und wenn man die Kellner verärgert«, sagte Großmutter, »spucken sie einem in die Suppe.«

»Mutter! Bitte! Wir sind beim Essen!«

Großmutter zuckte gleichgültig mit den Schultern, dann stocherte sie in ihrem Kartoffelpüree herum, als suchte sie darin nach Rattenkot.

»Erzählt doch mal, wie ihr euch kennen gelernt habt«, sagte Tante Louisa.

Renee sah John an. Er räusperte sich. »Wir sind uns in einem Diner begegnet. Sie kam zu mir und ... stellte sich einfach vor.«

»Das gefällt mir«, sagte Brenda und spießte ein Stück Schmorbraten mit der Gabel auf. »Eine Frau, die den Männern zeigt, wo der Hammer hängt!«

Tante Louisa tätschelte Renees Hand. »Sie meint es als Kompliment, meine Liebe.«

»Dann hat er Glück gehabt, dass Alice den ersten Schritt gemacht hat«, sagte Sandy, »weil sie höchstwahrscheinlich alt und runzlig geworden wäre, wenn sie darauf gewartet hätte, dass er sie anspricht.«

Alle, die am Tisch saßen, nickten einstimmig, als wäre dieser Punkt eine allgemein bekannte Tatsache und als wäre John gar nicht anwesend. Und John schien sich alle Mühe zu geben, diese Diskussion zu ignorieren.

Tante Louisa wandte sich an Brenda. »Und wie kommt Melanie im neuen Schuljahr zurecht?«

»Natürlich bestens«, sagte Brenda.

»Und ihre Ballettstunden?«

»Du meinst ihren Taekwondo-Kurs«, murmelte Eddie.

Tante Louisa hob die Augenbrauen. »Taekwon ... do?«

»Das ist so was wie Kungfu«, sagte Großmutter.

»Wir haben entschieden, dass sie lieber Kampfsport treiben sollte«, erklärte Brenda. »Mädchen müssen frühzeitig lernen, sich zu verteidigen.«

»Wir haben entschieden?«, fragte Eddie nach.

Brenda verdrehte die Augen. »Zu lernen, auf Zehenspitzen zu tanzen, ist wohl kaum eine bedeutende Lebensaufgabe.«

»Du könntest von Zeit zu Zeit auch einmal zu einem Kompromiss bereit sein, weißt du ...«

»He! Ich habe erst vor kurzem einen Kompromiss geschlossen und ihr eine Barbie-Puppe gekauft!«

»Ja - eine Barbie in Soldatenuniform!«

»Ich habe doch gesagt, dass es ein Kompromiss war.«

»Vielleicht solltest du gelegentlich Mutter und Kind mit ihr spielen - statt Geisel und Einsatzleiter.«

»Und vielleicht über ein Kätzchen anstatt eines Rottweilers als Haustier nachdenken«, fügte Sandy hinzu.

»Und sie in den Zoo statt auf den Schießplatz mitnehmen«, lautete Tante Louisas Vorschlag.

Großmutter schnaufte. »Wenn ihr so weitermacht, kann das Kind ja nur lesbisch werden.«

»Ja, schon gut!« Brenda schäumte stumm, dann wandte sie sich an Renee. »Was meinst du, Alice? Ein neues Jahrtausend hat begonnen. Wäre es nicht an der Zeit, dass wir endlich die Rolle der Frau neu definieren?«

Renee erstarrte. Es war eindeutig eine jener Situationen, in der man so oder so ins Fettnäpfchen treten würde.

»Ich glaube«, sagte sie vorsichtig, »dass sich Melanie glücklich schätzen kann, so viele Menschen in ihrer Nähe zu haben, die sich um sie sorgen.«

Es wurde totenstill am Tisch.

»Wow!«, sagte Sandy. »Tolle Antwort.«

Alle, sogar Brenda, nickten zustimmend und setzten die Mahlzeit fort.

Renee glaubte einfach nicht, was hier vor sich ging. In ihrer Jugend hätte eine solche Meinungsverschiedenheit bei Tisch ihre Mutter und sie in tiefste Feindseligkeit gestürzt, die mindestens eine Woche angehalten hätte. Und Stille hatte Renee nur in den seltenen Momenten erlebt, wenn ihre Mutter tatsächlich einmal das Essen zubereitet hatte. Es war so weit gekommen, dass ihr Schweigen lieber als alles andere gewesen war, weil es in jedem Gespräch nur darum gegangen war, was ihrer Mutter wieder an Renee missfallen hatte. Und wenn sie keine neuen Vorwürfe parat hatte, grub sie etwas aus, das zwei Wochen oder länger zurücklag. Dann trank sie, und dann begann das Geschrei, bis Renee schließlich aus dem Haus stürmte, die Tür hinter sich zuschlug und tagelang nicht heimkehrt. Hier war alles anders. Diese Leute warfen sich unablässig Beleidigungen an den Kopf, aber die Worte schienen genauso schnell vergessen zu sein, wie sie ausgesprochen wurden. Als wären sie überhaupt nicht verletzend gemeint.

Renee war sich nicht sicher, was das bedeutete, nur dass niemand wirklich einen Groll gegen einen anderen zu hegen schien. Und alle aßen weiter, als würde ihr Appetit nicht im Geringsten beeinträchtigt. Selbst Melanie hatte allem Anschein nach keine Probleme damit. Ihre Aufmerksamkeit wurde völlig vom Versuch beansprucht, ein Riesenstück Butter auf ihr Brötchen zu pappen.

Und niemand stürmte hinaus und schlug die Tür hinter sich zu.

»Nun, Alice«, sagte Brenda. »Ich würde sagen, du bist um Längen besser als die letzte Frau, die John zum Sonntagsessen mitgebracht hat. Wie war noch gleich ihr Name? Debbie? Mein Gott, war das eine hirnlose Tussi!«

Wieder nickten alle. Nur John schloss mit einem erschöpften Seufzer die Augen.

»Wenn ich mich recht entsinne, wart ihr nicht sehr lange zusammen«, sagte Dave.

Sandy schnaufte verächtlich. »Sie ist nicht mal bis zum Nachtisch geblieben.«

»Natürlich nicht!«, sagte John, der plötzlich wieder lebendig wurde. »Nicht, nachdem Brenda ihr erklärt hat, wenn sie nur etwas mehr Mascara auflegen würde, könnte sie als Fernsehpredigerin auftreten!«

Brenda zuckte mit den Schultern. »Kann ich was dafür, dass sie wie Tammy Faye Baker aussah?«

»Ihr Rock war viel zu eng«, sagte Großmutter. »Ich konnte ihre Arschspalte sehen.«

Sandy lächelte. »Das Beste war, als Dave versucht hat, ihre Intelligenz auf die Probe zu stellen.«

»Ich kann mich nicht erinnern, dass etwas vorhanden gewesen wäre, das ich auf die Probe hätte stellen können«, sagte Dave, Sandy wandte sich an Renee. »Dave hat sie gefragt, ob sie wüsste, warum das Wort Abkürzung so lang ist. Damit hat er die arme Frau völlig durcheinander gebracht.«

»Dann sag mir doch mal, Alice«, begann Dave nonchalant, »was wohl passiert, wenn du zweimal halb zu Tode erschrocken wirst?«

Renee zuckte mit den Schultern. »Keine Ahnung. Ich quäle mich immer noch mit der Frage ab, warum Antipasta das Gegenteil von Pasta sein soll.«

Dave spießte energisch eine grüne Bohne auf. »Toll! Meine Stimme hat sie.«

»Meine auch«, sagte Brenda.

»Und meine sowieso schon«, fügte Sandy hinzu.

John warf seine Gabel scheppernd auf den Tisch. »Also gut. Warum bringen wir es nicht einfach zu Ende und machen daraus ein einstimmiges Ergebnis?«

»Nein«, sagte Großmutter. »Ich bin mir immer noch nicht sicher, ob Kellner ins Essen spucken oder nicht.«

»Hört ihr jetzt endlich damit auf? In welcher Art von Beziehung Alice und ich stehen, ist einzig und allein unsere Sache. Ende der Diskussion.«

»Natürlich, John«, sagte Tante Louisa, dann beugte sie sich zu Renee herüber und flüsterte: »Normalerweise ist er gar nicht so grantig. Ich glaube, es liegt nur daran, dass er diesen Tadel bekommen hat.«

»Tadel?«, fragte Renee.

Dave grinste. »Du hast es ihr noch nicht erzählt?«

John schlug sich die Hände vors Gesicht.

»Er hat sich tierisch aufgeregt, weil irgendein Kerl, den er verhaftet hat, vor Gericht freigesprochen wurde. Danach ist er in die Toilette gerannt und hat einen Papierhandtuchspender windelweich geschlagen.«

»Würdest du jetzt bitte aufhören, Dave!«, sagte John.

»Dann wurde er von Lieutenant Daniels in die Verbannung geschickt, in seine Waldhütte irgendwo im Osten von Texas. Da schickt er alle seine Jungs hin, wenn sie sich danebenbenommen haben.«

Also deshalb hatte John sich in der Hütte aufgehalten. Es war offenbar kein ganz normaler Urlaub gewesen, wie er ihr weiszumachen versucht hatte. Und offensichtlich passte es ihm überhaupt nicht, dass darüber gesprochen wurde.

»Wenn ich es mir recht überlege«, sagte Dave, »bist du etwas zu früh zurückgekommen, nicht wahr?«

»Ja«, sagte John. »Ich bin etwas zu früh zurückgekommen.«

»Das wird dem Lieutenant gar nicht gefallen.«

»Der Lieutenant muss ja nichts davon erfahren, oder?«

»Keine Panik! Ich schweige wie ein Grab.«

John warf Brenda einen Blick zu.

»Was starrst du mich so an? Glaubst du ernsthaft, ich würde dich verpfeifen?« Sie schnaufte angewidert. »Ich persönlich finde, dass es falsch von dir war, den Handtuchspender zu demolieren. Du hättest deine Energien für den kleinen Mistkerl aufsparen sollen, der freigekommen ist.«

»Natürlich wäre da noch die Sache mit der Anwendung brutaler Gewalt im Polizeidienst«, warf Eddie ein.

»Richtig«, sagte Brenda. »In diesem Fall wäre ich dafür.«

Eddie schüttelte nur seufzend den Kopf und aß weiter.

»Sieh es einfach etwas lockerer«, sagte Dave zu John. »Manchmal gewinnt man, manchmal verliert man. Du kannst es nicht beeinflussen, also solltest du dir deswegen keinen Kopf machen.«

»Du musst mir nicht erklären, wie ich meine Arbeit zu erledigen habe.«

»Es ist nicht das erste Mal, dass du Schwierigkeiten mit dem System hast. Du musst lernen, mit den Wölfen zu heulen.«

»Du wirst gleich vor Schmerz heulen, wenn du nicht die Klappe hältst.«

Dave zuckte mit den Schultern. »Klar. Wir können uns eine Runde prügeln, wenn du möchtest. Du könntest aber auch über das nachdenken, was ich dir sage. Du solltest aufhören, diese Dinge zu persönlich zu nehmen. Früher oder später wirst du daran zerbrechen.« Er musterte John aufmerksam. »Gib Daniels keinen Grund, dir erneut auf die Finger zu klopfen. Dazu bist du zu gut.«

John starrte auf seinen Teller. Schließlich nickte er seinem Bruder zu, aber so leicht, dass es kaum zu sehen war. Dave wechselte sofort das Thema und sprach darüber, wie gut heute die Gewinnchancen für die Cowboys standen.

Renee konnte nicht fassen, was sie soeben gehört hatte. Jetzt wusste sie, warum John im Wald so wütend geworden war. Sie hatte ihm vorgeworfen, überhaupt nicht an Gerechtigkeit interessiert zu sein, ohne zu wissen, dass er kurz zuvor mit seinem Vorgesetzten aneinander geraten war, weil er sich eine Sache viel zu sehr zu Herzen genommen hatte.

Plötzlich bedauerte sie es, ihm unterstellt zu haben, er halte sich nur an die Vorschriften, ohne sich dafür zu interessieren, ob sie wirklich schuldig war oder nicht. Als sie den wahren Hintergrund erkannte, fühlte sie ein Kribbeln, das sie völlig überraschte. In jedem Augenblick, den sie mit Johns Familie verbrachte, brach ein weiterer Stein aus der Mauer, die ihn umgab, so dass sie immer besser erkennen konnte, wer er wirklich war. Er konnte es nicht ertragen, dass ein Schuldiger freigesprochen wurde. Würde es ihn genauso schmerzen, wenn eine unschuldige Person ins Gefängnis wanderte? Wie weit würde er gehen, um dafür zu sorgen, dass es nicht dazu kam?

Tante Louisa sah auf die Uhr. »Seid ihr bald fertig? Es ist nicht mehr lange bis zum Anstoß. Ihr Jungs geht ins Wohnzimmer und schaltet den Fernseher ein. Wir Mädchen kümmern uns um den Abwasch.«

Brenda schnaufte angewidert. »Louisa, du weißt ganz genau, wie sehr ich diesen Jungs-hier-Mädchen-da-Mist hasse!«

»Natürlich weiß ich es. Jetzt sei so lieb und bring die Soßenterrine in die Küche.«

Brenda verdrehte die Augen. Sie packte die Schüssel und brachte sie weg. Renee wollte die Teller einsammeln, aber John zog sie beiseite. »Du kommst mit mir«, flüsterte er.

»Nein«, flüsterte Renee zurück. »Es macht keinen guten Eindruck, wenn ich nicht mithelfe.«

»Es ist mir egal, welchen Eindruck das macht. Du sollst in meiner Nähe bleiben.«

»Komm schon, John! In diesen Jeans kann ich nicht einmal laufen, geschweige denn wegrennen.«

Brenda und Sandy kehrten aus der Küche zurück.

»Du bist unser Gast, Alice«, kam John ihnen zuvor. »Die anderen kümmern sich um den Abwasch.«

»Was soll das werden?«, sagte Brenda. »Verweigerst du deiner Freundin das Recht, ihre Rolle als Bürger zweiter Klasse spielen zu dürfen?«

John schien einzusehen, dass er sich verdächtig machte, wenn er auf seinem Standpunkt beharrte. »Alice ist kein großer Football-Fan«, sagte er, während er sich entfernte. Doch sein Lächeln passte überhaupt nicht zum Ausdruck seiner Augen. »Sagt mir Bescheid, falls sie versucht, sich durch die Hintertür davonzustehlen, ja?«

»Keine Sorge«, erwiderte Sandy grinsend. »Wir lassen sie auf keinen Fall entkommen.«

Nachdem sie sämtliches Geschirr in die Küche gebracht und in die Spülmaschine gestellt hatten, wusch Sandy die Töpfe mit der Hand ab, während Renee abtrocknete.

»Nimm es nicht so ernst, wenn John wie vorhin beim Essen in die Luft geht«, sagte Sandy. »Wir werfen uns ständig solche Sachen an den Kopf, seit wir sprechen können. Zufällig war John heute das Hauptziel. Er ist gar nicht so halsstarrig, wie er tut. Nach der Halbzeit hat er es schon wieder vergessen.«

Renee lächelte nur. Sie wusste, dass sich auch nach der Halbzeit nichts an Johns Stimmung geändert haben würde. »John und Dave sind schon ziemlich unterschiedliche Typen, nicht wahr?«

Sandy lachte. »Wie Tag und Nacht. Und Alex ist wieder ganz anders. Dave sieht die Dinge so gelassen, dass er praktisch ständig im Koma liegt. Aber diese Eigenschaft kommt ihm in seinem Job zugute. Er hat schon viele Konflikte entschärft, weil es vielen sehr schwer fällt, ihn als ihren Feind zu betrachten, selbst wenn er gerade dabei ist, sie hinter Schloss und Riegel zu bringen. Alex dagegen hat immer ein Gesetzbuch dabei, wenn er einen Übeltäter fasst. Er kennt keine Freundlichkeit mehr, wenn er glaubt, dass jemand die Gesetze übertreten hat. Alex war Dads Lieblingskind. Sein ältester Sohn, weißt du.«

»Und John?«

»Für Dave ist der Beruf des Polizisten einfach nur ein Job. Für Alex ist es eine Mission und für John eine Passion. Er hat diese seltsame Vorstellung, dass am Ende stets die Gerechtigkeit siegen sollte. Seine Brüder können nach Feierabend ganz entspannt nach Hause fahren, ganz gleich, was geschehen ist. John kann das nicht.«

Brenda ließ den Deckel eines Plastikbehälters zuschnappen, den sie mit den übrig gebliebenen Kartoffeln gefüllt hatte. »Ich verstehe einfach nicht, was daran so schwierig sein soll. Man denkt nicht über seinen Job nach. Man macht ihn einfach. Könnt ihr euch vorstellen, dass ich auf einen Geiselnehmer ziele und mir erst einmal überlege, ob vielleicht mildernde Umstände vorliegen, bevor ich ihm das Gehirn wegpuste?«

»Nein, Brenda«, sagte Tante Louisa, die gerade mit einem Geschirrtuch die Anrichte sauber wischte. »Das kann sich niemand von uns vorstellen.«

»Ich bekomme eine Zielperson genannt und schalte sie aus. Auftrag erfüllt.«

»Aber es gibt einen großen Unterschied zwischen dir und John«, sagte Sandy. »John hat ein Herz.«

»Richtig. Aber dagegen könnte er etwas tun, wenn er es sich fest vornehmen würde.«

Sandy warf Brenda einen vernichtenden Blick zu.

»Ja, schon gut!« Brenda wandte sich an Renee. »John ist ein guter Mensch. Wirklich. Ich sage ja nur, dass er sich das Leben unnötig schwer macht, wenn er glaubt, er könnte die Welt verändern, während wir anderen wissen, dass das unmöglich ist. Man wird immer wieder Schuldige laufen lassen und Unschuldige durch die Mangel drehen. Dagegen kann niemand etwas tun.«

Brenda und wie sie die Welt sah - kein angenehmer Ort zum Leben, dachte Renee. Insbesondere, da sie möglicherweise bald zu den armen, glücklosen Menschen gehörte, die dazu verdammt waren, durch die Mangel gedreht zu werden.

Einige Minuten später kehrten sie ins Wohnzimmer zurück. Als alle einen Sitzplatz gefunden hatten, besetzten Brenda, Eddie und Dave das Sofa, während Ashley im Wohnzimmer herumtollte. Sandy hockte im Schneidersitz mit Melanie auf dem Fußboden. Tante Louisa hatte den Sessel neben der Lampe genommen, damit sie sich ihrer Häkelarbeit widmen konnte, und für Großmutter hatte man einen Stuhl aus dem Esszimmer geholt und neben das Sofa gestellt, weil sie vor kurzem am Rücken operiert worden war.

John hatte man das Kanapee überlassen. Es war ein recht kleines Kanapee. Und Renee blieb nichts anderes übrig, als es mit ihm zu teilen.

Sie setzte sich vorsichtig und spürte sofort, dass sich das Polster zur Mitte neigte und sie gegen John gedrängt wurde. Sie verschränkte die Arme und versuchte sich so klein wie möglich zu machen. John schien genauso verkrampft wie sie zu sein, und wenn alle anderen sich nicht auf das Spiel konzentriert hätten, wäre niemandem entgangen, dass sie beide unmöglich ein Paar sein konnten.

Der Rest der Familie hingegen zeigte nicht die Spur von Befangenheit. Sie riefen, schimpften, jubelten, schlossen Wetten über die nächste Spielrunde ab, fluchten, strichen den Wettgewinn ein und jubelten wieder. Der ganze Raum schien in Bewegung zu sein, während Gelächter und gutmütige Beleidigungen hin und her flogen.

Renee wusste, dass ihr Hiersein eine einzige Lüge war, aber für einen langen, himmlischen Moment schloss sie die Augen und sonnte sich im Gefühl, von einer Familie umgeben zu sein, auch wenn es nicht ihre eigene war. Und plötzlich war sie so eifersüchtig auf John, dass sie es nicht mehr ertragen konnte. Er hatte diese wunderbare Familie, und sie war überzeugt, dass er es als völlig selbstverständlich nahm, während sie als Kind einer Alkoholikerin aufgewachsen war, die sie wie den letzten Dreck behandelt hatte und mit der sie seit Jahren nicht mehr gesprochen hatte. Ihr Gefühl der Sehnsucht wurde so überwältigend, dass sie in Ohnmacht zu fallen drohte.

Sie hatte sich wegen der falschen Gefahren Sorgen gemacht. Das Problem bestand gar nicht darin, dass alle Familienmitglieder mehr oder weniger für die Polizei arbeiteten, sondern dass sich Renee in ihrer Mitte viel zu wohl fühlte. Was war, wenn sie im Gefängnis landete? Sie kannte diese Leute kaum, aber der Gedanke war ihr unerträglich, dass sie sie für eine Kriminelle halten könnten.

Und das Wichtigste überhaupt war: Was dachte John darüber?

Er saß steif neben ihr und schien ihre Anwesenheit gar nicht zu bemerken. Er hatte die Arme verschränkt und starrte auf den Fernseher, obwohl Renee spürte, dass er sich kaum auf das Spiel konzentrierte. Offensichtlich passte es ihm nicht. so tun zu müssen, als wäre sie seine Freundin. Und wenn er, was selten geschah, doch in ihre Richtung schaute, war sein Blick voller Misstrauen, als rechnete er damit, dass sie jeden Moment durchdrehen und Geiseln nehmen konnte.

Als dächte sie auch nur im Traum daran, solange Brenda anwesend war.

»Alice?«

Renee blickte sich um. Melanie stand hinter ihr und hielt einen Stapel Spielkarten in der Hand.

»Ja?«

»Spielst du Quartett mit mir?«

»Melanie«, sagte Brenda. »Lass Alice in Ruhe, wenn sie sich das Spiel ansieht.«

»Kein Problem«, sagte Renee zu Brenda und lächelte Melanie an. »Ich würde gerne mit dir spielen. Aber vielleicht sollten wir an den Tisch da drüben gehen, um niemanden zu stören.«

Als sie aufstand, schien John wieder aufzuwachen und warf ihr einen warnenden Blick zu, wie es zwischen ihnen schon fast zur Gewohnheit geworden war. Sie deutete mit einem Nicken auf den Esstisch. Er lehnte sich auf dem Kanapee zurück und sah sie mit einem Ausdruck an, der besagte, dass er alles andere als begeistert war. Doch als sie mit Melanie ins Nebenzimmer ging, konnte sie genau spüren, wie sich sein Blick in ihren Rücken bohrte. Sie hätte sich am liebsten umgedreht und ihn angebrüllt: Wir spielen nur Karten, nicht Räuber und Gendarm!

Aber sie tat es nicht. Sie setzte sich mit Melanie an den Tisch und versuchte so zu tun, als wäre John überhaupt nicht anwesend. Sie konnte sich in der nächsten Zeit einem stumpfsinnigen Kartenspiel und der Illusion hingeben, sie führe ein völlig normales Leben, und sie beschloss, es ausgiebig zu genießen.

John saß auf dem Kanapee, trommelte mit den Fingern auf der Armlehne und starrte geradeaus, als verfolgte er das Spiel. Doch im Augenblick hätte er kaum die beiden Teams auseinander halten können, und wenn sein Leben davon abgehangen hätte, den derzeitigen Spielstand zu nennen, wäre er ein toter Mann gewesen. Er wünschte sich nur, die Bande würde endlich sein Haus verlassen, damit er nachdenken und nach einer Möglichkeit suchen konnte, wie er aus dem Schlamassel herauskam, in den er sich hineinmanövriert hatte. Zum Glück schien niemand den Verdacht zu hegen, dass Renee vielleicht doch nicht seine Freundin war, und das war gut so.

Aber mussten sie Renee unbedingt so gern haben?

Er verstand es nicht. Bisher hatten sie an jeder anderen Frau herumgenörgelt, die er ihnen vorgestellt hatte, auch wenn er sie angeblich unbedingt heiraten sollte. Warum mussten sie es sich in den Kopf setzen, dass ausgerechnet Renee die richtige Frau für ihn war?

In Wirklichkeit war er erleichtert, als Renee aufgestanden war, um mit Melanie Karten zu spielen, weil er hoffte, dass er sich nun auf das Football-Spiel konzentrieren konnte. Er zog die Schuhe aus, legte die Füße auf den Couchtisch und starrte auf den Fernseher, aber ganz gleich, wie sehr er sich bemühte, seine Aufmerksamkeit auf das Spiel zu lenken, sein Blick wanderte ständig zu Renee hinüber, als wären seine Augen irgendein Hightech-Spürgerät.

Sie spielten nun schon seit einer halben Stunde Quartett.

Nach zehn Minuten war Großmutter ins Spiel eingestiegen. Er hörte immer wieder Bruchstücke ihrer Gespräche, Melanies Jubel, wenn sie vier passende Karten zusammen hatte, und Großmutters Klagen, dass die Zahlen auf den Karten viel zu klein gedruckt waren, um sie lesen zu können.

Bevor sie eine neue Runde austeilte, zeigte Renee auf eine Karte und erklärte Melanie, dass die Piks die Abdrücke der Pfoten kleiner Hundewelpen waren. Melanie kicherte, als wäre es das Lustigste, was sie jemals gehört hatte, und bei ihrem hysterischen kindlichen Gelächter wäre sie fast vom Stuhl gefallen. Selbst Großmutter musste grinsen. Renee widmete sich dem Spiel mit der Gewissenhaftigkeit eines Blackjack-Kartengebers und der Geduld einer Tante, die ihre Lieblingsnichte verhätschelte, wo sie konnte.

Und John konnte sie keinen Moment aus den Augen lassen.

Er nahm jedes Detail ihrer Bewegungen auf, wie das Licht auf ihrem goldenen Haar schimmerte, wie ihre langen, schlanken Finger geschickt die Karten auffächerten, wie sie Melanie mit ihrem strahlenden Lächeln überschüttete. Es kam nur selten vor, aber wenn sie sich umdrehte und sich zufällig ihre Blicke trafen, verblasste ihr Lächeln sofort. Er stellte sich für einen kurzen Moment vor, wie es wohl wäre, der Anlass zu sein, der sie zum Lächeln brachte, und nicht der Grund, es verschwinden zu lassen.

Wie wäre es, wenn sie keine gesuchte Verbrecherin wäre? Wenn sie tatsächlich seine Freundin wäre? Würde es sich so anfühlen? Dass er niemals den Blick von ihr abwenden wollte?

Hör auf damit! Du vergisst, wer sie ist und warum sie hier ist!

Doch im Verlauf des Nachmittags konnte er sich immer weniger vorstellen, wie Renee mit der Waffe in der Hand einen Supermarkt überfiel. Allmählich sah er sie so, wie seine Familie sie zweifellos sah - als hübsche, kluge, nette und einnehmende Frau. Sein Gehirn fügte automatisch sexy zu dieser Liste hinzu. Er löschte das Wort sofort aus, aber im nächsten Moment stand es wieder da, diesmal sogar in fetten Großbuchstaben.

Sehr; sehr sexy.

Dann erhob sich Sandy vom Teppich und kam zu ihm. Er machte sich auf alles gefasst. Er konnte unmöglich erraten, was ihr plötzlich in den Sinn gekommen sein mochte.

Sie ließ sich neben ihn auf das kleine Sofa fallen. »Ich schätze, die Cowboys können heute von dir nicht allzu viel begeisterte Unterstützung erwarten, wie?« Sie grinste. »Dafür scheint sich Alice voll und ganz auf ihren größten Fan verlassen zu können.«

»Schluss jetzt, Sandy!«

»Schau sie dir nur an«, sagte sie, als hätte er das nicht schon die ganze Zeit getan. »Sie scheint sich prächtig mit Melanie zu verstehen, nicht wahr?«

»Hmm-hmm.«

»Selbst Großmutter amüsiert sich blendend, wie es aussieht.«

»Hmm-hmm.«

»Du bist immer noch sauer auf mich, nicht wahr?«

»Hmm-hmm.«

»Warum hakst du es nicht endlich ab und sagst mir, dass wir einen richtig netten Nachmittag miteinander verbracht haben? Alice hat die Familie kennen gelernt. Alle mögen sie. Das ist doch gut!«

»Wahrscheinlich werden Tante Louisa und du morgen unser Hochzeitsgeschirr aussuchen.«

»Nein. Morgen das Besteck und am Dienstag Porzellan.« Sie tätschelte sein Knie. »Aber jetzt mal im Ernst, John. Sie ist eine gute Frau. Versprich mir, dass du alles tust, um sie festzuhalten, ja?«

Eine Stunde später hatten die Cowboys mit Ach und Krach den Sieg errungen, und John hatte in seinem ganzen Leben noch nie so sehr das Ende eines Spiels herbeigesehnt. Nach dem üblichen Aufstehen und Strecken und Einsammeln der Töpfe bewegte sich seine Familie endlich in Richtung Tür. Renee trat an seine Seite, um sie zu verabschieden.

Melanie zerrte an Johns Hose. Er ging neben ihr in die Hocke. »Alice ist nett.«

»Ach ja?«

»Wirst du sie heiraten?«

»Nun, Mellie, darüber haben wir noch nicht gesprochen.«

»Ich mag sie. Aber sie ist nicht besonders klug.«

»Aha?«

»Ich habe sie im Quartett geschlagen. Gegen Mama habe ich noch nie gewonnen.«

Daran hatte John nicht den geringsten Zweifel. Es musste wie ein Wettkampf zwischen Tinkerbell und Rambo sein.

Melanie sprang nach draußen. Großmutter trat mit zurückhaltender Miene zu Renee. »Falls ich irgendwann mal dein Restaurant besuche, passt du dann gut auf, wie mein Essen zubereitet wird? Damit ich keine Überraschungen erlebe?«

Renee lächelte. »Es wäre mir ein Vergnügen.«

Großmutter wandte sich an John. »Also gut. Ich denke, dass sie auch meine Stimme hat.«

Sie humpelte zur Tür hinaus. Tante Louisa war die Nächste. »Es hat mich sehr gefreut, dich kennen zu lernen, Alice. Ich hoffe, dass Alex und Großvater beim nächsten Mal dabei sind, damit du die ganze Familie kennen lernst. Wie wäre das?«

Wieder lächelte Renee. »Das würde mir gefallen.«

Dann kam Dave, der wieder Ashley im Arm hielt. »Bitte beurteile uns nicht nach dem Eindruck, den John bei dir hinterlassen hat. Er mag ein Nichtsnutz sein, aber seine Familie ist schwer in Ordnung.« Er umarmte sie flüchtig. »Du bist jetzt keine Fremde mehr«, sagte er, dann folgte er Tante Louisa zur Tür. Selbst Brenda verabschiedete sich mit einer vorsichtigen, aber ehrlich gemeinten Umarmung, bevor sie ihre Sonnenbrille aufsetzte und ihre Augen unsichtbar machte.

Als Renee an der Tür stand und ihnen nachwinkte, erinnerte sich John an Sandys Worte: Versprich mir; dass du alles tust, um sie festzuhalten. Das war das Einzige, woran er im Augenblick denken konnte. Er wollte Renee festhalten. Stundenlang. Vielleicht sogar die ganze Nacht lang ...

Was war geschehen? Wie hatte sich innerhalb weniger Stunden seine Wahrnehmung so sehr verändern können, dass er jetzt keine Frau mehr sah, die eines Verbrechens angeklagt war, sondern eine Frau, mit der er so vieles unternehmen wollte - mit ihr reden, sie berühren, sie festhalten, sie lieben ...

Er blinzelte diesen Gedanken fort und sah durch das Fenster, wie das letzte Auto davonfuhr. Nachdem das Chaos den ganzen Nachmittag lang angehalten hatte, wurde es im Haus plötzlich so still, dass er glaubte, seinen eigenen Herzschlag hören zu können.

»Wie es scheint, haben wir es geschafft«, sagte Renee. »Sie haben keine Ahnung, nicht wahr?«

»Ja«, sagte John, der immer noch aus dem Fenster sah. »Sie haben keine Ahnung.«

»Ich hatte befürchtet, sie könnten mich etwas fragen, worauf ich etwas Falsches sage. Ich habe alles richtig gemacht, nicht wahr?«

John schloss die Augen. »Ja. Du hast alles richtig gemacht.«

»Habe ich zu viel gesagt? Oder nicht genug?«

»Es war völlig in Ordnung, Renee. Sie fanden dich sehr nett.«

»Also, was hast du?«

Er drehte sich langsam um. Er hatte es ihr zu verdanken, dass seine Familie geglaubt hatte, sie sei seine Freundin. Und das machte es für ihn umso schwerer, das zu tun, was er tun musste. Aber leider blieb ihm keine andere Wahl.

Er warf einen Blick zum Schlafzimmer, wo immer noch die Handschellen am Bettpfosten hingen. Diese Augenbewegung genügte, um Renee begreiflich zu machen, was er dachte. Ihre nächsten Worte waren kaum mehr als ein heiseres Flüstern.

»Du musst mich wieder fesseln.«

Er zögerte. »Ja. Ich will es eigentlich nicht, aber ...«

»Die Pflicht ruft?«

Er stieß schnaufend den Atem aus. »Was soll ich stattdessen machen, Renee? Sag es mir! Was soll ich tun?«

»Vielleicht ... mich laufen lassen?«

»Du weißt, dass das nicht geht.«

»John ...«

»Mach es mir nicht schwerer, als es ist.«

Ihre Hand bewegte sich zur Kehle, als hätte sie plötzlich Atemnot. »Ich schätze, ich hätte es wissen müssen, aber ich dachte ... nach allem, was geschehen ist ...« Sie warf ihm einen flehenden Blick zu. »Ich ... kann es einfach nicht fassen, dass du es tun willst.«

Sie starrten sich eine Weile schweigend und zitternd an. Es war furchtbar für ihn. Aber er hatte wirklich keine andere Möglichkeit. Er befand sich in einem schrecklichen Zwischenzustand - sein Gewissen sagte ihm, dass er sie weder ausliefern noch freilassen durfte.

»Ich werde nicht mehr versuchen davonzulaufen, John. Ich verspreche es. Bitte. Lass mich wenigstens für ein paar Stunden ...«

Sie verstummte, und der flehende Blick ihrer Augen machte John klar, wie sehr er sich genau dasselbe wünschte. Er wollte, dass alles wieder normal wurde, dass sie sich nicht als Polizist und mutmaßliche Kriminelle gegenüberstanden, dass ihm nicht ständig Worte wie Pflicht und Verantwortung durch den Kopf gingen.

»Nur für ein paar Stunden«, flüsterte sie.

Verdammt! Warum tat sie ihm das an? Er steckte in einer sehr unangenehmen Zwickmühle. Warum erkannte sie das nicht?

»Uns stehen zwei Möglichkeiten zur Auswahl«, sagte er. »Entweder du gehst von selbst hinein, oder ich zerre dich hinein.«

Sofort schössen ihr Tränen in die Augen. »Du Mistkerl! Ich habe alles getan, was du von mir verlangt hast, und so willst du mir dafür danken?«

»Du bist nach wie vor eine flüchtige Verbrecherin. Das scheinst du vergessen zu haben.«

»Wie könnte ich das vergessen? Du lässt schließlich keine Minute verstreichen, ohne mich daran zu erinnern!«

»Ich tue nur meine Pflicht.«

»Nein, deine Pflicht wäre es gewesen, mich in der Polizeiwache abzuliefern. Stattdessen bin ich jetzt hier. Und jetzt weißt du nicht mehr, was du mit mir machen sollst. Du könntest mich ins Gefängnis bringen, aber du weißt genau, was dann geschieht, und damit kannst du nicht leben!«

In einem Anfall der Verzweiflung packte John Renees Arm, zerrte sie durch den Korridor ins Schlafzimmer, wo er sie zwang, sich aufs Bett zu setzen.

»Nein, das wirst du nicht tun, John. Nein!«

Sie wollte aufstehen, aber er stieß sie wieder zurück. Sie versuchte ihr Handgelenk loszureißen, aber er war zu schnell. Im nächsten Moment schnappte das Handschellenschloss ein.

Renee funkelte ihn wütend an. »Warum hast du mich überhaupt hergebracht? Wenn ich hier die ganze Zeit gefesselt herumsitzen muss, hättest du mich genauso gut in eine ordentliche Zelle bringen können!«

»Provoziere mich nicht, Renee!«

»Du kannst es einfach nicht! Du bringst es nicht fertig, mich auszuliefern, nicht wahr? Weil du weißt, dass ich unschuldig bin. Du weißt, dass ich den Supermarkt nicht überfallen habe. Du weißt, dass ich nicht auf die Angestellte geschossen habe. Aber trotzdem ...« Sie hob demonstrativ das gefesselte Handgelenk und ließ es wieder aufs Bett fallen. »Trotzdem tust du so, als hätte ich es getan!«

Zwischen ihnen knisterte es vor Spannung, und es schien, dass ein winziger Funke genügt hätte, die Vorhänge in Brand zu setzen.

»Ich frage dich noch einmal, John. Glaubst du, dass ich schuldig bin? Oder bin ich eine Frau, die nur zur falschen Zeit am falschen Ort war?«

»Es gibt keine Beweise ...«

»Verdammt! Könntest du mal für fünf Sekunden die Beweise vergessen? Ich will keine Gesetzestexte oder Vorschriften hören. Ich habe dich nach deiner Meinung gefragt.«

Er wandte sich von ihr ab. Am liebsten hätte er sofort den Raum verlassen und sich nicht eher in ihre Nähe zurückgewagt, bis er das Gefühl hatte, die Angelegenheit wieder im Griff zu haben. Doch als sie weitersprach, war ihre Stimme so sanft und zerbrechlich, dass es ihn völlig unvorbereitet traf.

»Mir ist heute etwas klar geworden«, sagte sie. »Was ich dir im Wald vorgeworfen habe, stimmt nicht. Dein Problem ist nicht, dass dir alles gleichgültig ist. In Wirklichkeit geht es dir so nahe, dass es dich zu zerreißen droht.«

Er musste raus hier! Sofort!

»Du weißt, wie es wirklich war, stimmt‘s? Du weißt es.«

Er blickte sie wieder an, was sein erster Fehler war. Sein zweiter war, dass er sich einbildete, er könnte objektiv bleiben, wenn es um Renee ging. Sie betrachtete ihn so eindringlich, dass er das Gefühl hatte, durchsichtig zu sein. Wieder drehte er den Kopf weg, während er wusste, dass er kurz davor stand, eine Grenze zu überschreiten, die er niemals hatte überschreiten wollen. Und wenn er erst einmal auf der anderen Seite stand, würde es für ihn keinen Weg zurück geben.

Aber sie hatte Recht. Er wusste, wie es wirklich gewesen war. Wie konnte er es immer noch abstreiten?

»Mein Polizistenverstand sagt mir, dass du schuldig bist«, antwortete er schließlich. »Und er rät mir, dich unverzüglich ins Gefängnis zu bringen, damit die Sache erledigt ist. Aber da ist noch etwas anderes ...«

Er hielt inne, dann drehte er sich langsam zu ihr herum. Und wieder blickte er in ihre klaren blauen Augen, die ihn seit ihrer ersten Begegnung in den Bann gezogen hatten.

»Auch wenn ich nicht den Fetzen eines Beweises in der Hand habe - aus irgendeinem Grund glaube ich trotzdem daran, dass du mir die Wahrheit sagst.«